Millionenwerte in Fingernagelgröße

Ein Wareneinkauf ganz besonderer Art in Antwerpen. Von Elisa Zander, Aachener Zeitung, 31. Januar 2015. 
Lesedauer: 8 Minuten

Link zum online Artikel >

Antwerpen. Überquellende Aschenbecher stehen neben benutzten Pappbechern, in denen Ränder noch Kaffeespuren andeuten. Die zwei großen Schreibtische sind aneinandergeschoben. Verstreut zwischen Radiergummis, Stiften und Papier liegen kleine gefaltete Zettel. „Was brauchst Du?“, fragt Herr Fessel.

Fessel, der seinen Vornamen nicht verraten möchte, leitet das Geschäft in Antwerpen gemeinsam mit seinem Bruder in der dritten Generation, die vierte wächst gerade heran. Es ist ein Familienbetrieb, die Schleiferei befindet sich in Israel.

Der jüdische Diamantenhändler spricht heute Deutsch mit Raphael Steinbach, damit die Gäste aus Aachen dem Gespräch folgen können. Ein Diamant mit Prinzessschliff soll es sein, ein eckiger Stein also, mit exakt 0.60 Carat. Er wird später einen Ring schmücken, den Steinbach auf Bestellung zum 60. Geburtstag einer Kundin anfertigt.

Fessel ist spezialisiert auf Prinzess-Diamanten. Er brummt etwas vor sich hin und langt nach einem der auf den Tischen verstreut liegenden Blättchen. Mit drei Handgriffen hat er den passenden Stein gefunden, schiebt ihn auf ein weiteres weißes Blatt Papier und reicht ihn dem Goldschmied. Dann zündet sich Fessel eine Zigarette an. Ob er fände, dass er einen spannenden Job habe? „Hm, Routine“, sagt er und bläst den Rauch aus. Seit 25 Jahren ist er im Diamantengeschäft und einer der gefragtesten Händler in Antwerpen.

Empfang im alten Bahnhof. Zwei Stunden zuvor war Treffpunkt im alten Bahnhof in Antwerpen. Raphael Steinbach wollte ihn unbedingt zeigen. Der sei einmal von einer Londoner Zeitung zum viertschönsten Bahnhof der Welt gekürt worden. Zu Recht. Die große Kuppel lässt den Eingangsbereich wie eine Kathedrale wirken. So wurden auch die jüdischen Diamantenhändler empfangen. Damals, 1890. Hier, an diesem Ort, begann für sie der Handel mit den exklusiven Steinen.

Weil Juden im Mittelalter Handwerksberufe verboten waren, konzentrierten sie sich auf den Handel – unter anderem mit Diamanten. In keiner anderen Stadt Europas gehört die jüdische Kultur bis heute so selbstverständlich zum Stadtbild wie in Antwerpen. Rund um den Bahnhof verschmilzt sie mit dem brillanten Business.

„Wollen Sie was kaufen?“, fragt Fessel in Richtung der Presse und zieht aus einer Plastiktüte neben dem Tisch ein Schmuckkästchen. Darin liegen an die 50 gelbe Diamanten, zusammengelegt als Collier. „250.000 Euro“, sagt er knapp mit einem Nicken auf das Kästchen, lässt es wieder zurück in die Plastiktüte gleiten und schiebt es auf dem Fußboden unter den Tisch. „Ein Schnäppchen“, wird Raphael Steinbach später sagen.

In Antwerpens Innenstadt reihen sich Schmuckgeschäfte wie Perlen einer Kette aneinander. „Touristenläden“ kommentiert Steinbach knapp. Das wirkliche, richtige Diamantengeschäft spielt sich einige Straßen weiter ab. Steine im Wert von zig Millionen Euro liegen hinter den Mauern der hohen Gebäude an der Rijf-, Hoevenier- und Schipstraat.

Dort konzentriert sich eine der vier Antwerpener Diamantenbörsen, der Diamantclub van Antwerpen, gegründet 1893 und damit eine der ältesten der Welt. Hier kaufen Großhändler ebenso ein wie kleinere Anbieter und Goldschmiede wie Raphael Steinbach. In seinem Atelier in Hergenrath hat er einige Stücke gefertigt, für die er heute Brillanten und Perlen kauft.

Zugegeben – von außen sieht es wenig spektakulär aus. Das schmuddelige Winterwetter lässt die grauen Fassaden der Hochhäuser noch trister wirken. Es ist unscheinbar, und das wollen die Händler auch. Lediglich einige Polizisten und die vielen Überwachungskameras lassen erahnen, dass hier der größte Diamantenumschlagplatz der Welt ist: 50 Prozent der geschliffenen und sogar 90 Prozent der Rohdiamanten der Welt durchlaufen Antwerpen – die Weltproduktion von Naturdiamanten liegt derzeit bei etwa 20 Tonnen pro Jahr.

Auf einem Quadratkilometer arbeiten 27.000 Menschen im Diamantensegment. Doch mit zehn Jahren Erfahrung in der Branche weiß der Goldschmied aus Belgien genau, zu wem er geht. Er hat in Antwerpen seine Ausbildung zum Goldschmied gemacht. Die Selbstständigkeit schloss sich vor fünf Jahren daran an.

Erste Anlaufstelle an diesem regnerischen Tag war ein Händler für Brillanten. Die Sicherheitskontrollen in den Gebäuden sind streng. Nur mit speziellem Ausweis und Genehmigung erlangt man Zutritt. An diesem Tag gibt es für die Autorin und den Fotografen eine Ausnahme. Man weist darauf hin, dass das genaue Prozedere nicht beschrieben oder fotografiert werden dürfe.

Nur so viel: Es gibt Kontrollen, Fotos werden gemacht, dann erhält jeder eine Passierkarte. Mit den Aufzügen geht es in den elften Stock. „Wie in einer Behörde“, ist der erste Gedanke. Einziger Unterschied: An jeder Tür hängen Überwachungskameras. Gesichert sind sie zusätzlich mit Zahlenschlössern und Schleusen.

Hinter einer dieser Türen sitzt an einem Holzschreibtisch Herr de Bruyn. Um ihn herum Telefon, Laptop, eine Lampe und Kisten voller Plastiktütchen. Darin Diamanten, zu Hunderten, sortiert nach Größe, Farbgebung, Reinheit. Zusammengenommen bestimmen diese Kriterien den Preis der Steine. Raphael Steinbach bestellt mehrere Diamanten verschiedenen Carats.

De Bruyn bittet ins Hinterzimmer. Er will zeigen, wie hier gearbeitet wird. Geheimnisse gibt es nicht. Mitarbeiter André Karlberger sortiert mit Millimetersieben die von Raphael Steinbach bestellten Steine. Auch er findet seinen Beruf wenig aufregend. „Wir sind Techniker, wir wollen nicht wissen, was das kostet.“ Millionen gehen durch seine Hände.

„Es ist für uns wie für den Bauern Kartoffeln. Alles ganz normal.“ Seit 40 Jahren arbeitet er in diesem Beruf. Die Aufmerksamkeit, die ihm gerade zuteil wird, scheint Karlberger befremdlich. Aber die Schätze, die im Tresor neben ihm liegen, zeigt er gern. Colliers im Wert von 400.000 Euro, Kisten voller Steine in diversen Formen. Zwei 60-Caräter hielt er einmal in der Hand, erzählt er. Für Ohrringe der ehemaligen Kaiserin von Persien, Farah Diba.

Kurz vor dem Verlassen des Büros fällt noch ein Blick auf einen weiteren Mitarbeiter. Vor ihm liegen hunderte Diamanten. Mit geübtem Blick schiebt er sie mit Pinzette und Sieb über Papier. Der ihm gegenüber sitzende Kunde schaut gelangweilt aus dem Fenster. Das hier ist Alltag – und offenbar nur für Besucher faszinierend und aufregend.

Einkäufe in Antwerpen wie diese gehören fest zum Alltag des Goldschmieds. Steinbach lässt sich inspirieren von der Atmosphäre, kurzen Gesprächen mit den Händlern. „Es ist meine zweite Heimat“, sagt er und fügt lachend hinzu: „Es riecht nach Diamanten.“ In der Tat liegt ein leichter Eigengeruch in der Luft. Riechen so Diamanten? Zumindest hat die Stadt einen unverkennbaren Eigengeruch.

Steinbachs Einkauf geht weiter, Perlen stehen auf der Liste. Der Händler reicht Pralinen und erzählt, während er in Tücher eingewickelte Perlenstränge aus den Schränken holt, wie sein Großvater während des Zweiten Weltkriegs nach Indonesien ging, damals noch niederländische Kolonie.

Nach drei Jahren Gefängnis blieb er dort und stieg in das Perlengeschäft ein. Später ging er nach New York City, bevor er zwölf Jahre später in Antwerpen den Familienbetrieb gründete, in dem Herr Wasyng heute in der dritten Generation tätig ist. Auch er will seinen Vornamen lieber nicht in der Zeitung lesen. Der sei nicht wichtig.

Viel wichtiger seien der Schmuck, die Perlen und deren individuelle Schönheit. Für den Laien ist der Unterschied zwischen einer natürlichen und einer kultivierten Perle kaum zu erkennen. Wasyng erklärt: „Bei natürlichen Perlen ist der Lüster viel intensiver, und die Perlmuttschichten sind fester.“

Liegt eine gezüchtete Süßwasserperle bei 600 Euro, kostet eine vergleichbare natürlich gewachsene etwa 3000 Euro. Raphael Steinbach vergleicht die Perlen, die auf Papierkarten kleben. Immer wieder hält er sie ins Licht, sucht nach der optimalen Größe für den vorgefertigten Ring. Er tippt auf eine der Perlen. „Die nehme ich.“ Entscheidungen fallen hier schnell.

Steinbach ist begeistert von der Qualität der Materialien, sowohl bei Perlenexperte Wasyng als auch bei den anderen Händlern. Immer wieder verfällt er ins Schwärmen, nachdem er Perlen, Gold und Diamanten unter der Lupe betrachtet hat. Der Werdegang und die Geschichte eines Schmuckstücks seien wichtig, erklärt er. Und ebenjenen Werdegang zu begleiten, das sei es, was ihn an seinem Beruf fasziniere.

Welche Art von Schmuck findet er persönlich eigentlich am schönsten? „Den Ring, weil der Träger ihn selber sieht und sich ständig daran erfreut.“ Solch einen, wie er ihn in seinem kleinen Atelier nun vollenden wird. Der Stein im Prinzess-Schliff für den Ring zum 60. Geburtstag ist ebenso sicher verstaut wie Gold, Silber und Perlen.

Auf dem Weg zurück zum Bahnhof geht es noch einmal durch die Straßen an der Diamantenbörse, wo sich Kunden und Händler die Hand schütteln, sich unterhalten, hin und wieder Geschäfte abwickeln. Sie befinden sich auf dem Handelsweg, den die jüdischen Diamantenhändler schon vor mehr als 100 Jahren gingen. Inder, Niederländer, Deutsche, Engländer – sie alle wandeln heute auf ihren Spuren. Und verleihen mit ihrem brillanten Business der Stadt bis heute ihre Einzigartigkeit.